in meiner Küche und glotze schon wieder auf meinen Computer-Bildschirm. Dabei ist es ein schöner, sonniger Abend. Gefühlt fängt der Frühling erst heute an. Es fällt mir zu spät ein, dass ich vielleicht auch einfach mal den Abend draußen hätte genießen können, statt in meiner kleinen Wohnung (ohne Balkon!) zu sitzen, um noch eines dieser unendlichen Online-Formate zu konsumieren, die es zurzeit überall im Angebot gibt. Eine Reihe von unbekannten Gesichtern starrt mich stumm an. Noch ein paar kommen dazu. Vorsichtig wird gelächelt, ich versuche es mit einem unbeholfenen Winken. Und schon ist es zu spät. An Flucht ist nicht mehr zu denken. Und auch die Überlegung, einen Computer-Crash vorzutäuschen, ist bald vergessen.
Wir werden mit einer Menge Energie und aufrichtigem Enthusiasmus begrüßt. Eine Art Vorfreude überträgt sich von Bildschirm zu Bildschirm und ich weiß wieder, warum ich heute unbedingt dabei sein wollte: Ich möchte die Stadt, in der ich lebe, aktiv mitgestalten.
Aktuell bin ich Teil der Nachbarschaftsinitiative „Ostkreuz – Kiez für Alle“, die das Leben im Friedrichshainer Süd-Kiez nachhaltig grüner und sozialer gestalten will (um es sehr vereinfacht zu formulieren). Uns gibt es erst seit Oktober 2020 – nichtsdestotrotz sind seitdem schon einige Aktionen und Ideen umgesetzt worden. Und die Ideen werden nicht weniger – zum Glück!
Umso wichtiger, dass wir eine haltbare Organisationsstruktur entwickeln und eine gesunde Gruppendynamik auch nachhaltig fördern. Denn wir meinen es ernst. Sehr ernst sogar. Wir bauen uns jetzt etwas Langfristiges auf – und damit basta! So bin ich auch bereit, auf das Feierabendbier in der Sonne zu verzichten und stattdessen mit einer unzerkauten Mahlzeit im Magen aufmerksam zwei erfahrenen Ini-Hasen zuzuhören. Und ich merke schnell, dass all die Gesichter auf meinem Bildschirm heute Abend es genauso ernst meinen. Alle sind wir da, weil wir es für wichtig halten. Unsere Kiez-Initiativen sind uns wichtig. Und jetzt hoffen wir also, ein paar Anregungen und konkrete Ideen zum Thema Selbstorganisation geschenkt zu bekommen.
Zum Glück funktioniert das auch wunderbar in einer entspannten, ungezwungenen Atmosphäre. Wir sind unterschiedlich alt und tragen unterschiedlichen Frisuren. Eine Person sitzt draußen im Garten mit schlechter Internetverbindung, eine andere liegt halbwegs im Bett, während eine dritte ein scheinbar leckeres Abendessen zu sich nimmt. Headsets und Brillen schmücken einige nickenden Köpfe. Während des Workshops kriegen die Gesichter auch Stimmen. Laut oder leise. Mal nur ein paar wenige Wörter hintereinander, mal eine wohlformulierte Aneinanderreihung von Haupt- und Nebensätzen. Frage- und Ausrufezeichen sind in den Wortmeldungen dabei. Ich bin nicht die Einzige, die die deutsche Grammatik unabsichtlich neu interpretiert – und wahrscheinlich auch nicht die Einzige, die nicht so ganz einschätzen kann, was sie wohl von diesem Abend erwarten soll.
Ich bin nun Teil dieser bunten Truppe geworden. Vielleicht wusste ich es schon, aber hier lerne ich erneut, dass es in den unterschiedlichsten Ecken Berlins aktive Nachbarschafts-Initiativen gibt. Und dass immer weitere dazukommen. Am besagten Abend sind sowohl länger bestehende Kiez-Initiativen repräsentiert als auch welche, die erst gerade dabei sind sich zu finden. Wir stecken offensichtlich in sehr unterschiedlichen Phasen und haben unterschiedlich viele Erfahrungen in Bezug auf die Ini-Arbeit sammeln können. Wir sind aber alle überzeugt, dass wir mit unseren Initiativen etwas bewirken und zum Positiven verändern können. Und auf jeden Fall haben wir den unbedingten Willen, es zu versuchen! Es ist extrem motivierend, den (jetzt nur halbwegs fremden) Verbündeten hier im Cyberspace zu begegnen. Das macht Mut und Lust auf mehr.
Die zwei erfahrenen Ini-Hasen sind zwei sehr sympathische Menschen, die vor lauter Engagement und Energie sprudeln. Sie haben viel Wissen, das sie großzügig mit uns teilen. Aber noch viel wichtiger ist, dass sie hochansteckend sind! Ein paar einfache Power-Point-Slides begleiten die Präsentation aus Theorie und Praxiserfahrung. Sie stellen Ideen vor und sprechen von Idealvorstellungen in Bezug auf Strukturen und Arbeitsweisen in selbstorganisierten Initiativen. Sie denken nach und überlegen mit und reagieren entgegenkommend auf Fragen. Ohne Zweifel sehr kompetente und sympathische Ini-Hasen. Nicht zuletzt weil sie die ganze Zeit so groß lächeln. Es bleibt locker und informell. Ein schöner Abend in guter Gesellschaft. Ich trinke einen Schluck von meinem längst kaltgewordenen Tee und notiere einige Punkte auf einem Blatt Papier. Während ich mit meinem Kuli ein undefinierbares Wesen am Rande des Papiers male, überlege ich, wo wir in unserer Ostkreuz-Ini-Struktur schrauben und ölen könnten, damit es noch besser läuft. Ich mekre, dass ich mich freue, bald wieder mit meinen Mitkiezler*innen zusammenzusitzen und Pläne für die Zukunft zu schmieden.
Huch! Anscheinend habe ich einen Moment lang gedankenversunken nicht wirklich zugehört. Ich nicke zustimmend in meine Webcam, obwohl ich nicht so genau weiß, was gerade gesagt wurde. Dennoch bin ich mir ziemlich sicher, dass es schlau war. Ich bin keinesfalls gelangweilt, sondern vom Vortrag so angetrieben, die Energie gleich in meine Nachbarschaft einfließen zu lassen und mit meiner Kiez-Gruppe zu teilen.
Die Grundprinzipien, die uns im Laufe des zweistündigen Workshops vermittelt werden, sind für mich nicht neu. Es tut aber gut, indirekt bestätigt zu bekommen, dass wir uns im Friedrichshainer Südkiez jetzt schon eine recht gute Basisstruktur erarbeitet haben. Und ich nehme auch weitere und für mich neue Impulse aus dem Workshop mit. Zum Beispiel erinnern uns die erfahrenen Ini-Hasen daran, dass die Strukturen einer selbstorganisierten Initiative ständig in Bewegung sind und sich fortlaufend verändern. „Gewöhnt euch dran!“ lautet die positive Mahnung (in meinem Kopf jetzt als wichtiges Ini-Mantra abgespeichert).
Der erste Teil des Workshops ist eher theorielastig. Da alles aber gut und pädagogisch erklärt wird, kommt mir der ganze Workshop aber recht praxisnah vor. Denn die Worte erzeugen leicht verständliche Bilder. Und die Bilder verschaffen eine direkte Verbindung zur aktuellen Situation der Nachbarschaftsinitiativen, in denen ich aktiv bin. Für mich macht es Sinn. Und mich noch ein bisschen klüger. Vor allem ist der Workshop inspirierend und kurbelt die Engagement-Lust und Nachbarschafts-Fantasien an. Wörter, die für mich gut zur Idee des Kiez-Organismus passen. Ich nehme mit, dass ich den Kiez auch als einen lebendigen, sich ständig wandelnden Organismus betrachten kann. Das fühlt sich irgendwie gut und vertraut an.
Die Zeit vergeht sehr schnell und wir sitzen schon viel länger als geplant vor unseren Bildschirmen. Für mich kein Problem – jetzt ist die Sonne eh bald untergegangen und ich habe wertvolle Eindrücke sammeln können. Die Gesichter vor mir wirken nachdenklich, fröhlich und vielleicht auch ein wenig müde. Keine starrenden Blicke mehr. Ob ich wohl auch irgendwann ein erfahrener Ini-Hase sein werde? Das wird sich zeigen. Jetzt steht erstmal fest: Ich möchte unsere Struktur und Selbstorganisation gemeinsam mit meiner Kiez-Gruppe erneut unter die Lupe nehmen. Schrauben. Basteln. Ölen. Ausprobieren, ausprobieren, ausprobieren.